Deutscher Vizemeister über 100km in 6:53:12
Deutscher Vizemeister über 100km, so darf ich mich nach einer ausgesprochen wechselhaften 100km-DM 2023 in Ubstadt-Weiher (nähe Karlruhe/Bruchsal) nennen! Allgemein erwartet worden war ein Duell zwischen mir und Trailspezialist Max Kirschbaum, stattdessen kam es für mich auf der zweiten Hälfte zu einem Zweikampf mit Felix Weber, letztes Jahr bei der DM noch hinter mir Fünfter. Diesmal hatte Felix das bessere Ende für sich, und trug knapp den Gesamtsieg davon. Für mich steht immerhin meine erste nationale Medaille und knapp eine neue Bestzeit trotz einiger Widrigkeiten zu Buche.
Die Vorbereitung auf meinen dritten 100er (nach Platz 4 in 7:03 bei der DM 2022 und Platz 31 in 6:54 bei der WM 2022) verlief gut. Die letztjährigen muskulären Probleme habe ich inzwischen weitestgehend im Griff. Ich konnte daher wieder viel bessere Tempoeinheiten absolvieren, und teils sehr solide Umfänge einlegen, z.B. im Februar erstmals überhaupt eine Woche mit 200km erreichen. Dafür waren die langen Läufe überraschenderweise etwas schwächer als letztes Jahr - vielleicht war ich diesmal schlichtweg müder von mehr und schnelleren Tempoeinheiten? Nach einem viel besser als erwartet verlaufenen Testwettkampf (Cambridge Half Marathon Anfang März in 1:10:16) war ich trotzdem sehr optimistisch, endlich Richtung 6:40 laufen zu können. Erstmals war ich mit Hoka-Schuhen am Start (Carbon X v2; zuvor Adidas Adizero Adios Pro) - sie laufen sich schnell, und ich habe damit trotz meiner Breitfüßigkeit erstmals in einem Ultra Blutblasen und Zehennagelverluste vermieden.
Die Wettervorhersage war richtig schlecht, daher war ich froh, dass es am Wettkampftag dann "nur" konstant viel Wind und Böen mit Temperaturen um 10 Grad gab, aber anders als erwartet kaum Regen. Leider hatte ich die Zeit für letzte Vorbereitungen am Wettkampfmorgen etwas zu knapp bemessen, sodass für mich noch etwas Hektik aufkam, erst ein paar Minuten vor dem Start war ich fertig und im Startblock. Das sollte wirklich nicht passieren, die nervliche Energie muss man sich für später aufheben.
Um sieben Uhr fiel der Startschuss. Nationalmannschaftskollege Alexander Bock, letztes Jahr in Ubstadt Sieger, aber aktuell nicht voll im Training, hatte sich im Vorfeld freundlicherweise als Tempomacher angeboten. So absolvierten Max, Alexander und ich gleichmäßig eine 5km-Runde nach der anderen jeweils knapp unter 20 Minuten. Felix war zeitweise mit von der Partie, ließ sich dann aber etwas zurückfallen - im Rückblick ein geschickter Schachzug. Dass Markus Scheller und ein (für die DM unerheblicher) Este sich um ca 500m nach vorn absetzten, machte uns dreien erst einmal keine Sorgen. Einmal pro Runde trank ich meine "Pampe", ein individualisiertes Sportgetränk, von vielen Spitzensportlern hochgelobt, das ich nach Erprobung im Training heute erstmals im Wettkampf einsetzte. Nach rückblickend vielleicht eine Spur zu flotten 3:17h war die Hälfte geschafft.
Kaum war die ersten Hälfte so gleichmäßig-flott absolviert, ging es auf Runde 11 (km 50-55) plötzlich drunter und drüber (nach Ultramarathon-Maßstäben zumindest - auch der spannendste Ultra taugt schwerlich als Drehbuch für einen Actionfilm!): Markus und der Este brachen relativ abrupt ein, fielen zurück und gaben bald darauf auf. Ich selbst bekam ziemlich plötzlich Seitenstechen, begleitet von leichten Übelkeitsandeutungen, und musste Max und Alexander ziehen lassen - das war nicht geplant! Da das Seitenstechen sehr stark war und ich noch knapp 50km vor mir hatte, war ich nah dran auszusteigen. Über Wasser hielt mich die Hoffnung, dass Seitenstechen wieder verschwinden kann (anders als z.B. eine ernste muskuläre Verletzung), die Tatsache, dass ich immer noch auf einem Medaillenrang lief; und nicht zuletzt der Gedanke, dass es ziemlich undankbar meiner lieben Lorna gegenüber wäre, nur wegen Seitenstechen aufzugeben - während sie mir diesen Wettkampf überhaupt erst ermöglicht, indem sie liebenswerterweise für ein langes Wochenende in Cambridge auf unsere Kleinen (inzwischen drei davon!) aufpasst!
Ich nahm also gezwungenermaßen Tempo heraus (4:20-4:30min/km statt wie vorher 3:55-4:00) und kämpfte mich weiter. Tempomacher Alexander wartete, nach seiner letzten flotten Runde mit Max, im Verpflegungsbereich auf mich und zog mich netterweise noch eine Runde weiter. Michael Sommer gab mir wie inzwischen gewohnt seine besonnen-klaren Ermutigungsworte mit auf den Weg. Wichtig war auch, dass ich nun die Pampe, die ich als (Mit-)Verursacherin der Seitenstechen im Verdacht hatte, absetzte, und stattdessen zu meinen bewährten Gels griff, die ich glücklicherweise auch bereitliegen hatte. Tatsächlich verschwanden die Seitenstechen und leichten Übelkeitsgefühle peu à peu wieder, und nach meiner langsamsten Runde des Tages (km 65-70, 22:28 min) konnte ich das Tempo wieder auf ca 4:10-4:15min/km anziehen.
Einmal versuchte ich die Pampe noch, der Bauch gab aber ein sehr klares "Nein"-Signal. Alles klar, verstanden! Die Gels bekam ich dagegen problemlos herunter, ebenso wie die Cola. Normalerweise ist diese für einen Zusatzschub gegen Ende reserviert - nun griff ich sie mir als vorgezogene zusätzliche Belebungsmaßnahme. Der Energienachschub war also noch im Lot, auch dank hilfreicher Aufdrängung von Verpflegung von Alexander und André Collet am Streckenrand als ich, noch im mentalen Tief, den Nachschub lieber ganz links liegenlassen wollte.
Hilfreich war nun auch, dass mein Patenonkel, meine Tante und zwei ihrer Kinder, bei denen ich vor dem Wettkampf übernachtet hatte, sich für die zweite Rennhälfte an die Strecke begeben hatten, und mir willkommenen moralischen Beistand und wertvolle Infos zu Platzierung und Abständen lieferten. Denn es tat sich noch einiges: Max, der zur Hälfte noch stark aussah und mir nach meiner Krise zeitweise um knapp 10 Minuten enteilt war, brach ab km 70 unerwartet komplett ein. Bei km 80 passierte ich ihn, als er nur noch gehen konnte, bald darauf gab er auf. Nun war ich plötzlich in Führung, wer hätte das noch gedacht? Naturgemäß waren meine Beine inzwischen sehr müde, die Hamstrings deuteten gelegentlich Krämpfe an - dabei gab es nun noch eine neue Herausforderung zu meistern, in Form von Felix Weber, der mir mit seinem gleichmäßigen Tempo nach meiner zwischenzeitlichen Verlangsamung wieder eng auf die Pelle gerückt war. Bei km 86 schloss er auf, und gab mir, ganz Sportsmann, erstmal kurz die Hand. Dann drückte er weiter aufs Gas, und ich hängte mich dran, so gut es ging. Den Kampfgeist, den man für einen solchen Zweikampf auf den Schlussrunden bräuchte, hatte ich allerdings - so fühlte es sich an - schon mit meiner Seitenstechenepisode verbraucht. Oder war das nur ein geschicktes Argument meines inneren Schweinehundes, der eindeutig keine Lust mehr auf Tempoverschärfungen hatte? Der praktische Effekt war jedenfalls derselbe: Ich ließ Felix ziehen - bzw. er zog mir davon, mit seinem soliden Tempo und kraftvollen Auftreten.
Auf der vorletzten Runde (meine 22:01 Minuten gegen 21:04 von Felix) verlor ich weiter Zeit. Da der Drittplatzierte weit entfernt war und also keinen Ansporn zu flotteren Schlussrunden darstellte, war es mental immerhin hilfreich, dass eine neue Bestzeit (und damit auch eine Bestätigung der aktuellen 6:55-Norm für die A-Nationalmannschaft) noch in Reichweite, aber keineswegs sicher war. Die letzte Runde gelang mir, davon beflügelt, nochmal deutlich schneller in knapp unter 21 Minuten. Nur 24 Sekunden trennten mich von Felix, als er als neuer deutscher Meister ins Ziel kam, ich in neuer PB (persönlicher Bestzeit) von 6:53:12 knapp dahinter. Glückwunsch an Felix zu seiner starken Leistung!
Ich denke, mir hat es auf den letzten beiden Runden vor allem an mentaler Stärke gefehlt, teilweise wohl bedingt durch die Probleme am Beginn der zweiten Hälfte. Physisch hätte ich ein stärkeres Finale drauf haben sollen, gerade nachdem das Tempotraining zuletzt wieder viel besser lief. Dafür, dass ich mental bedingt nicht alles aus mir herausgeholt habe, spricht auch, dass ich unmittelbar nach dem Lauf und in den Folgetagen muskulär und gesamtkörperlich deutlich weniger angeschlagen war als nach meinen beiden letztjährigen 100ern. Am Schlusstempo werde ich im Training also arbeiten müssen, z.B. mit Endbeschleunigungen in langen Läufen. Mental muss ich mich auf möglichst alle Szenarien vorbereiten, z.B. auch eben unerwartet frühe Krisen oder unerwartete Führungswechsel gegen Ende. Positiv ist, dass ich mich durch die Krise kurz nach km50 durchgebissen habe und drangeblieben bin, und letztendlich ist der Vizemeistertitel nebst neuer PB trotz sehr windiger Bedingungen ein sehr schönes Ergebnis. Und man muss ja noch Ziele für die Zukunft haben!
Konkret nehme ich also für zukünftige Wettkämpfe mit: Endspurt im Training üben; Hektik am Wettkampfmorgen vermeiden, genug Zeit lassen; Verpflegung optimieren und immer Alternativen dabei haben; aus Zwischentiefs kann man wieder herauskommen, durchbeißen lohnt sich; und vor allem: der Körper wird in der Vorbereitung auf Hochleistung getrimmt, wieviel man davon am Wettkampftag abruft ist Kopfsache!
Die Qualifikation für die 100km-WM 2024 (Ausrichter noch unbekannt) sollte ich mit meiner 6:53 hoffentlich in der Tasche haben. Zunächst einmal werde ich mich diesen Sommer wieder auf die kürzeren Distanzen konzentrieren, um dann im Herbst wenn alles gut läuft einen Angriff auf meine Marathon-Bestzeit (2:23:55, London 2021) zu unternehmen.