London-Marathon -03.10.2021-

Vereinsrekord im Doppelpack! 

BAAAAM! 2:23:55! Auf diese Marke habe ich am 3. Oktober 2021 in London meine Marathonbestzeit geschraubt. Die Leser meiner Berichte werden sich erinnern, dass es mir nach vielen Anläufen letztes Jahr endlich gelungen ist, die 2:30er-Schallmauer zu knacken, mit einer flotten 2:26:12 auf dem Autorennkurs in Bedford. Seitdem habe ich viele, viele Trainingskilometer abgespult mit dem Ziel, diese Marke nochmal zu unterbieten – mit durchschlagendem Erfolg.  

Die Vorbereitung auf meinen Herbstmarathon verlief dieses Jahr wieder sehr, sehr gut. Die Umfänge konnte ich konstant auf hohem Niveau halten, fast jeden Monat einen neuen Hausrekord für den jeweiligen Kalendermonat aufstellen, insgesamt von Januar bis September sehr zufriedenstellende 4706 km sammeln (523km im Monatsschnitt!), und in der unmittelbaren Vorbereitung mehrmals Wochen über 100 Meilen (160km) einlegen. Auch die Intensitäten habe ich wie anvisiert hoch gehalten, wobei ich mich in der Planung dieses Jahr sehr eng an den Prinzipien von Trainerlegende Renato Canova orientiert habe. Allen noch uneingeweihten Läufern sei eine Recherche zu Canova dringend ans Herz gelegt – auf Nachfrage schicke ich gerne Material. Das Schlüsselkonzept von Canova lautet Spezifizität – das Training muss ganz spezifisch auf die anvisierte Wettkampfdistanz hin orientiert sein. Eigentlich logisch, aber gerade für den Marathon trainieren (so Canova) viele Läufer noch viel zu unspezifisch. 400m- oder 1000m-Intervalle auf der Bahn? Haben in der direkten Marathonvorbereitung nichts zu suchen. Die guten alten langsamen langen Läufe? Brauchen wir auch nicht mehr, sagt Canova. Spezifisch heißt für den Marathon stattdessen: Viele Kilometer im Marathontempo (+/- 10%) und schnelle lange Läufe. Dabei müssen alle Kerneinheiten, der extremen Anforderung eines Marathons entsprechend, richtig hart gestaltet werden, viel härter als in herkömmlichen Trainingsplänen – mit entsprechend längerer Regeneration als Ausgleich. Klar, Canova ist sehr dogmatisch und reizt möglicherweise zum Widerspruch, und seine Philosophie richtet sich vornehmlich an fortgeschrittene, leistungssportlich orientierte Läufer. Aber wer es im Marathon richtig wissen will, sollte (wie sehr viele afrikanische und auch deutsche/europäische Spitzenläufer) Mal ein paar Canova-Trainingszyklen absolvieren. 

Für mich sah mein Canova-orientiertes Programm konkret so aus, dass ich ab Juli drei Arten von Trainingsläufen (langer Lauf, lange Intervalle, Tempowechsellauf) stufenweise in Länge und Tempo gesteigert habe, sodass ich im September dann meine drei eigentlichen Kerneinheiten umsetzen konnte: Einen schnellen langen Lauf über 40km in 2:27:56 (3:42km/min Schnitt, auf Kurs für einen 2:36er Marathon – Mal eben so, morgens vor der Arbeit!); einen Tempowechsellauf über 23km, dabei je 1000m wechselnd zwischen „schnell" und „langsam", was mir im Schnitt von 3:18min/km (schnell) und 3:35min/km („langsam") gelang – man umspielt also sein anvisiertes Marathontempo, statt nur stur genau im Marathontempo zu laufen; und lange Intervalle im Marathontempo mit recht flotter „Erholung" (eine Canova-Spezialität), in meinem Fall 5x5km in 3:24min/km-Schnitt, mit Erholungspausen von 5x1km in im Schnitt 3:52min/km. Nach solchen hammerharten Einheiten sind dann aber auch je mindestens 3-4 Tage mit nur lockerem Training geboten. Man macht also weniger Einheiten als in herkömmlichen Plänen mit ihren 3-4 harten Einheiten pro Woche, diese aber dafür volle Pulle - „Nicht kleckern, klotzen!" (Heinz Guderian). Nachdem ich dieses Programm intus hatte, liefen klassische Marathoneinheiten wie 15km im Marathontempo oder 10km im Halbmarathontempo nur noch unter „Tapering" in der vorletzten Woche vor London.  

Ich fühlte mich jedenfalls bestens vorbereitet – trotz einiger Rückschläge. Zum einen hatte ich zwei sehr unerfreuliche muskuläre Verletzungen, die ich aber bei gut in den Griff bekam und die mich je nur etwa eine Trainingswoche kosteten. Zum anderen stand aber, wenig vielversprechend, ein völlig verkorkster Testwettkampf zu Buche, ein Halbmarathon Anfang September in 1:14:36 - mein langsamster Halbmarathon seit 10 Jahren (!). Dieser Fehlschlag hatte seine Ursache allerdings ganz konkret in einer schweren Erkältung nur wenige Tage vorher, sowie der Tatsache, dass meine Füße für die im Wettkampf getragenen, vielgerühmten Karbonsohlen-Superschuhe von Nike ungeeignet, da zu breit, sind – eine bittere Erkenntnis, wollte ich diesmal doch beim Marathon mit den bestmöglichen Schuhen an den Start gehen. Meine Alphaflys musste ich also nach dem Halbmarathon-Desaster wieder ausmustern, die Vaporflys nach Anprobe zurückschicken (ebenfalls viel zu eng im Mittelfuß). Nach einiger Recherche und Anproben wurde ich aber bei Adidas fündig, und freundete mich an mit deren Adizero Adios Pro 2 (ebenfalls mit Karbonsohle und modernem Dämpfungsschaum), die auch für Plattfußläufer wie mich tragbar sind. Noch lieber würde ich ein Paar Asics Metaspeed Sky laufen, aber die sind momentan internetweit in meiner Größe (48) ausverkauft. Am Rande gefragt: Bin ich eigentlich der einzige ausgewachsene Läufer, dessen Füße immer größer werden (vielleicht auch einfach immer platter)? Mit Anfang 20 habe ich Laufschuhe in 45/46 getragen, inzwischen ist 47 zu klein...  

Zurück zu London: Ich war topfit, die Schuhfrage war geklärt, und die Warnungen der Metereologen vor viel Regen und starken Böen lösten sich auf in einen komplett trockenen, nur leicht windigen Wettkampftag. Ein Problem gab es aber noch: Meinen neun Monate alten Sohn Benedict, dessen süße Unschuldsmine nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass er wochenlang unermüdlich versuchte, seine hartnäckige Erkältung an seinen Vater weiterzugeben. Den Marathon im Blick, nahm ich bei jedem Hustenanfall von Benedict volle Deckung und wusch mir die Hände nach jeder Berührung. In der Marathonwoche wähnte ich mich schon am Ziel (bzw. zumindest gesund an der Startlinie), dann erwischte es mich doch noch – am Freitag vor dem Rennen, mit eindeutigen Erkältungssymptomen: Abgeschlagenheit, Kopf- und Halsschmerzen. Krisenstimmung! Ich hatte, nach dem Halbmarathon (und in Erinnerung an den ebenfalls erkältungsbedingt verkorksten München-Marathon 2019), eigentlich fest beschlossen (und verkündet), künftig wichtige Rennen bei Erkältung konsequent abzublasen (und dann ein paar Wochen später Ersatz zu suchen). Man soll ja aus Erfahrung klug werden. Selbst Lauf- und Schachfreund Thomas, sonst bekannt als „harte Sau" gegenüber körperlichen Schwächeerscheinungen, sah für einen eventuellen Start in London schwarz. Andererseits: Diesmal waren die Symptome, bei aller Eindeutigkeit, relativ milde. Keine Bettlägrigkeit, fast kein Husten. Bei den letzten lockeren Trainingsläufen am Freitagabend und Sammstagmittag fühlte ich mich nicht völlig schlapp – aber auch überhaupt nicht kraftvoll. Es blieb zwei Tage alles in der Schwebe, mehrmals schwankte ich in meinem Entschluss hin und her (während man sich ja eigentlich genau in dieser Phase ruhig und stressfrei innerlich für den Wettkampf sammeln will). Am Samstagabend fühlte ich mich dann halbwegs passabel – also, was solls, versuchen wir es!  

Per Auto und U-Bahn begebe ich mich am Sonntag zum Start des London-Marathons. Bei 40000 Startern muss man frühzeitig (90min vor Start) vor Ort sein, wofür ich neben warmer Kleidung (wird danach für die Altkleidersammlung eingsammelt) mit einem billigen Dreibeinhocker vorausschauend gerüstet bin – ich interpretiere, während ich energiesparend und gemütlich die Zeit absitze, die zahlreichen Blicke meiner stundenlang herumstehenden oder im nassen Gras sitzenden Mitstarter jedenfalls als neiderfüllt ob meines genialen Einfalls! Die Erkältung spüre ich heute morgen nicht direkt, allerdings fühle ich mich definitiv viel weniger energiegeladen als sonst an einem Marathomorgen. Dementsprechend will ich mir keine starren Tempovorgaben machen, sondern nehme mir vor, heute mehr nach Gefühl zu laufen und eben so vorsichtig zu starten wie der Körper es verlangt. 

Coronabedingt wird das Rennen heute gestaffelt gestartet: Erst das Eliterennen, dann die britischen Meisterschaften (mehrere hundert Teilnehmer, inklusive alle Altersklassenmeisterschaften), erst dann mit etwas Abstand die erste Welle des Massenrennens. Bei dieser Welle bin ich ganz vorne mit dabei und überquere die Startlinie gespannt, ob ich die gute Vorbereitung heute doch noch umsetzen kann oder ob alles in einem Desaster endet, vielleicht schon auf den ersten Kilometern...  

Die ersten Schritte fühlen sich gut an, die Adidas-Schuhe laufen sich noch angenehmer als beim Testlauf vor einer Woche. Nach wenigen hundert Metern schließe ich mit den langsamsten Läufern der vorherigen Startwelle auf, und bin von da an die gesamte erste Hälfte des Rennens mit Überholen beschäftigt. Einerseits kostet das ein paar Manövriermeter, andererseits motiviert es natürlich und macht auch einfach Spaß.  

Letztes Jahr in Bedford auf dem Rundkurs von exakt 5km habe ich sehr gute Erfahrungen damit gemacht, nur alle 5km eine Zwischenzeit zu kriegen – wenn ich nach jedem km auf die Uhr schaue, verschwende ich einfach zuviel mentale Energie auf Rechenspiele und Hochrechnungen, während volle Konzentration auf das Laufen an sich gefordert ist, gerade wenn es hart wird. Dementsprechend schaue ich auch heute, meinem Plan entsprechend, ganz strikt nur alle 5km auf die Uhr. Und dieser erste Blick nach 5km hat es in sich: 16:11 – völlig irre! 16:35 wären schon auf Kurs für eine sub-2:20, und ich bin nochmal 14 Sekunden schneller!! Aber die ersten 5km in London geht es eher bergab, schauen wir also, was die nächsten 5km bringen.... 16:19! Einfach unfassbar! Ich war absolut darauf gefasst, dass ein Tempo, das sich heute „flott, aber durchhaltbar" anfühlt, erkältungsbedingt ziemlich langsam sein könnte (vielleicht 17:30-18:00 je 5km-Abschnitt). Stattdessen geht hier die Post ab!! Die Durchgangszeit bei 10km war 32:30 – nur 13 Sekunden langsamer als meine persönliche 10km-Bestzeit!  

Klar, im Nachhinein ist objektiv festzustellen: Ich hätte schon nach 5km, spätstens nach 10km mit Blick auf die absurd schnellen Zwischenzeiten einen Gang zurückschalten sollen. Aber nachdem ich bewusst ohne strikte Zeitvorgaben ins Rennen gegangen war, um eben bei eventuellen erkältugnsbedingten Problemen nach unten hin flexibel zu sein, war ich jetzt, voll mit Wettkampfadrenalin, auch nicht fähig, auf einmal nach oben hin Grenzen zu ziehen. Und, was soll ich sagen, ich nehme es mir nicht übel!  

So geht die wilde Hatz weiter: Der nächste 5km-Abschnitt in 16:35. Der darauffolgende in 16:22. Irre, irre, irre.... Die Halbmarathonmarke, kurz nach der Überquerung der ikonischen Tower Bridge, passiere ich in 1:09:16 – damit habe ich en passent 56 Sekunden von meiner Halbmarathon-Bestzeit (und damit auch von meinem Kitzinger Vereinsrekord) abgeknapst! Kurzzeitig scheint es mir nun sogar denkbar, Kurs zu halten auf den 30 Jahre alten unterfränkischen Rekord von 2:18:46.  

Diese Gedankenspiele werden aber schnell zur Makulatur, als mich ein deutlich langsamerer 5km-Abschnitt in 17:08 auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Und nun rächte sich die überforsche erste Hälfte, wie sich eine überforsche erste Marathonhälfte eben rächt: Die Beine werden schwerer und schwerer, und die Zwischenzeiten werden unerbittlich langsamer. Auf 17:08 folgt ein Abschnitt in 17:20, darauf einer in 17:49. Trotzdem, ich tue, was man in dieser Situation (und generell in diesem Stadium eines Marathons, jenseits von km 30) tun muss, nämlich kämpfen, kämpfen, kämpfen. Wenn schon nicht mehr schnell, dann so wenig langsam wie möglich! Für eine Weile kann ich mich an eine Gruppe anhängen, und glücklicherweise wird man in London auf den meisten Streckenabschnitten von zahlreichen Zuschauern lautstark vorangepeitscht. Sehr motivierend ist es auch zu wissen, dass Lorna von zu Hause aus das Rennen anhand der live übertragenen 5km-Zwischenzeiten genau verfolgen kann und zusammen mit den Kindern mitfiebert – nachdem sie mich schon auf dem monatelangen Weg hierher, durch die ganze Vorbereitung hindurch, liebenswerterweise, und wie immer, tatkräftig und emotional sehr unterstützt hat. You're the best!! Nun gilt es, auf den letzten Kilometern, zumindest die neue Bestzeit noch unter Dach und Fach zu bringen, und sie möglichst deutlich zu drücken!  

Leider tritt, zusätzlich zu inzwischen extrem schweren Beinen, schmerzenden Füßen und genereller Erschöfpung, ein neues Problem auf – ein Toilettenbesuch fühlt sich dringend geboten an. Sehr dringend. Ich habe, ist mir im Rückblick klar, am Vorabend bei der Spaghetti Bolognese nebst Bananen-Rosinen-Apfelmus-Nachtisch doch etwas arg großzügig zugelangt – auch das „Carbo-Loading" kennt seine Grenzen, und die habe ich gestern eindeutig überschritten. So sehr man als Marathonläufer um jede Sekunde bedacht ist – wäre bei km 39 ein Toilettenhäuschen gestanden, ich hätte dort ohne zu Zögern einen Stopp eingelegt... Aber so spät im Rennen gibt es keine entsprechenden Lokalitäten mehr, und so spare ich zwar einerseits ein paar Sekunden, andererseits vermieste diese Geschichte mir leider jeden Ansatz eines Endspurts – denn, anders als mancher vielleicht vermuten mag, wird man, ohnehin schon relativ flott laufend unterwegs, von dieser Art Druck keineswegs beflügelt, sondern nur und ausschließlich gehemmt.  

Irgendwie rettete ich mich aber noch bis zur Ziellinie (und den dortigen Toiletten), nach einem letzten 5er Abschnitt in 18:17 und finalen 2,2km in 7:54. Da wäre heute bei intaktem Magen sicherlich noch einiges mehr drin gewesen, die Willensstärke war definitiv da – der Geist war willig, aber das Fleisch war schwach...  

Aber was solls, die Gesamtzeit is immer noch grandios: 2:23:55! Eine neue Bestzeit, um über zwei Minuten, und eben auch inklusive einer neuen Halbmarathonbestzeit von 1:09:16 auf der ersten Hälfte. Somit darf ich mich auch rühmen, gleich zwei Vereinsrekorde in einem Rennen aufgestellt zu haben! 

In der in London separat ausgewiesenen Amateurwertung komme ich damit auf Platz 14, in der Gesamtwertung inklusive der Profis auf Platz 44. Außerdem besonders schön: Am Tag der Deutschen Einheit war ich in London der schnellste Deutsche (von immerhin über 400 mitlaufenden Landsleuten)!  

Mit diesem Ergebnis bin ich natürlich – und insbesondere angesichts der Vorgeschichte – hochzufrieden und überglücklich. Dass einige bremsende Faktoren im Spiel waren (Erkältung im Vorfeld; zu schneller Beginn; Verdauungsprobleme am Ende) war außerhalb meiner Kontrolle (Erkältung), in Zukunft leicht vermeidbar (Überfessen) bzw. primär der geschilderten heutigen speziellen psychologischen Situation geschuldet (überschneller Beginn). Deswegen tut das alles meiner Zufriedenheit mit dem heutigen Ergebnis keinerlei Abbruch, und gibt mir stattdessen einfach die Zuversicht: Heute lief es großartig, aber in Zukunft ist noch mehr drin! 

Ergebnisse---> https://results.virginmoneylondonmarathon.com/2021/