Am 7. Dezember hatte ich nach der 100km-WM 2022 in Berlin zum zweiten Mal die Ehre, das Nationaltrikot überzustreifen und mit der deutschen Mannschaft über 100km an den Start gehen. Diesmal war Bengaluru in Indien der Gastgeber, was einen Wettkampf bei Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit mit sich brachte - aber das sollte nicht die einzige Widrigkeit bleiben, die es zu überwinden galt...
Schon meine Vorbereitung verlief überaus holprig. Nach der eher enttäuschenden deutschen 100km-Meisterschaft im September in Kandel (nur 7:05h, aber immerhin wieder Vizemeister) kam ich gerade wieder halbwegs in Schwung, als ich mir Ende Oktober bei einem unglücklichen Sturz eine schmerzhafte Rippenprellung zuzog. Eine Woche war ich komplett außer Gefecht, danach war ich noch wochenlang stark beeinträchtigt, praktisch die ganze spezifische Vorbereitung war im Eimer. Als längste Trainingsläufe standen nur ein paar Einheiten knapp über 30km zu Buche, und auch im Tempo war ich von meiner (sehr guten) Vorbereitung auf Kandel weit entfernt. Der letzte solide Trainingsblock lag somit schon drei Monate zurück, als ich mich in den Flieger nach Indien setzte - aber die Hoffnung stirbt zuletzt! Und auf jeden Fall war es wieder großartig, in die Nationalmannschaftskleidung zu schlüpfen, und sich ein paar Tage als Profi unter Profis fühlen zu dürfen. Mit mir waren der deutsche Meister Max Kirschbaum, der DM-3. Martin Müller und der deutsche Meister und WM-Zehnte von 2022 Alexander Bock im Team, bestens betreut wurden wir von Teammanager André Collet, seiner Partnerin Beate und Max' Tochter Mia. Ein deutsches Frauenteam kam diesmal leider nicht zusammen.
Schon früh am Mittwoch kamen wir an, um uns noch etwas vor dem Wettkampf am Samstag zu akklimatisieren. Am Mittwochnachmittag erkundeten wir kurz die Wettkampfstrecke und nahmen einige tückische Bodenwellen und Schlaglöcher zur Kenntnis. Der Verkehr in Bengaluru, wie wir ihn z.B. auf der Fahrt zur Wettkampfstrecke erlebten, ist aus deutscher Sicht wirklich abenteuerlich, mit permanentem Hupen, dichtestmöglichem Auffahren und routiniert-waghalsigen Manövern. Um noch etwas mehr Eindrücke als nur das (schöne) Hotel und den chaotischen Verkehr mitzunehmen, machten wir noch einen kleinen Ausflug zu ein paar örtlichen Tempeln, ansonsten fokussierten wir uns als Mannschaft auf den Wettkampf. Besondere Freude macht es mir in einer solchen Umgebung wie im Hotel mit den verschiedenen Nationalmannschaften, dass man sich permanent und beliebig detailliert über alle Facetten des Laufsports unterhalten kann, ohne Gefahr zu laufen, das Gegenüber zu langweilen!
Am Freitag füllte ich meine 20 Flaschen ab, diesmal etwas mehr auf Abwechslung achtend (im Wechsel Ahornsirup und Wasser + Gel), bevor es zur Eröffnungsfeier ging, mit ein paar Reden und der Vorstellung der Nationalmannschaften, von 1-Mann-Teams (z.B. Aserbaidschan oder Schweiz) über mittelgroße Teams wie das unsere bis hin zu Großdelegationen wie Kroatien oder Frankreich (mit vollen Mannschaften, eigenen Physios und Ärzten etc.). Dann noch ein letzter Anruf nach England, wo Lorna Mal wieder liebenswürdigerweise die Kinder betreute und mir die ganze Reise erst ermöglichte, dann war es Zeit für frühe Nachtruhe vor dem großen Tag.
In Anbetracht der schwierigen Bedingungen - 21 Grad zu Beginn, 27 Grad am Ende; 95% Luftfeuchtigkeit; sowie eine kleine aber merkliche Steigung im 20 Mal zu durchlaufenden 5km-Kurs - wollten wir im deutschen Team konservativ starten, was uns auch vom Startschuss weg recht gut gelang. Alexander, Max und Martin legten stabil aber nicht übermütig los, ich hielt mich mit Blick auf meinen Trainingsrückstand noch etwas mehr zurück und pendelte mich auf Kilometerzeiten von 4:10-4:20 ein. Leider gesellten sich zu der Wärme frühzeitig noch andere Herausforderungen: Auf der ersten Hälfte war mein Magen noch nicht ganz auf Trab, drei Toilettenpausen sind alles andere als optimal - aber glücklicherweise renkte sich das wieder ein, und ich bekam meinen Sirup und meine Gels alle wie geplant herunter, die Energiezufuhr war sichergestellt. Echte Gefahr drohte dagegen vom Auto- und Motorradverkehr auf der Strecke (!). Theoretisch war die Strecke abgesperrt, aber praktisch schienen die Streckenposten jeden durchzuwinken, der laut genug hupte, wenn die Absperrungen nicht komplett aufgegeben wurden. Zeitweise wurde es richtig chaotisch, man wurde von flotten Motorrädern überholt, Läufer mussten Autos ausweichen, einmal kam ein seitlich anbrausendes Motorrad nur Zentimeter vor mir zum Stehen.
Etwa bei km 35 wurde ich von einer besonders chaotischen Szene auf der Gegengerade abgelenkt - prompt übersah ich eine der vielen Bodenwellen, und es legte mich der Länge nach hin. Äußerst ärgerlich! Den Dreck wusch ich an der nächsten Wasserstelle notdürftig wieder ab - ein blutiges Knie und eine schmerzende Hüfte blieben mir. Mein Tempo sackte prompt auf 4:30 bis 4:40 ab. Meine hinteren Oberschenkel waren schon länger sehr fest, nun strahlte die rechte Hüfte zusätzlich dortin aus - es war nun klar, dass es ein echter Kampf werden würde, das Rennen überhaupt zu finishen. Ich gab mein Bestes, aber es ging v.a. muskulär immer weiter bergab. Ab km 60 musste ich regelmäßig Gehpausen von 100-200m einlegen. Das letzte Mal, dass ich in einem Wettkampf Gehpausen machen musste, dürfte etwa 1998 der Fall gewesen sein, als ich als Grundschüler große Schwierigkeiten mit einem ungemein langen Rennen (800m?) hatte...
Wieder einmal war ich an dem in einem 100er offenbar unvermeidlichen Punkt, dass Aussteigen wie eine sehr reale und (laut innerem Schweinehund) auch vernünftige Option erschien. Wieder einmal hielten mich v.a. der Gedanke an die (aus der Ferne) mitfiebernde Familie im Rennen, sowie natürlich das Bewusstsein, hier nicht nur als Einzelstarter unterwegs zu sein, sondern auch mit dem Bundesadler auf der Brust! Alexander und Martin machten weiterhin ein sehr starkes Rennen und hatten mich schon längst überrundet - während Max inzwischen offenbar selbst große Probleme hatte, sodass ich als potentieller dritter Mann unbedingt im Rennen bleiben musste. Tatsächlich schloss ich bei km 75 zu Max auf. Leider hatten ihn massive Magenprobleme getroffen (das indische Essen?), und während ich immerhin noch mit kurzen Gehpausen weiterlaufen konnte, war er inzwischen andersherum zu nur noch kurzen Laufversuchen zwischen langen Gehstrecken verurteilt. Ein paar km versuchten wir es zusammen. Als endgültig klar war, dass für Max Laufen praktisch nicht mehr möglich war, machte ich mich wieder auf den Weg. Beim nächsten Verpflegungsdurchgang gab ich André zu verstehen, dass ich mein Rennen definitiv (wenn auch langsam) ins Ziel bringen würde, sodass die Mannschaftswertung (3 Läufer) sicher war und Max seinen unfreiwilligen "Wandertag" (Max) beenden konnte.
Auf den letzten Runden - mein Tempo hatte sich nun auf unterirdischen 5:30 - 6:10 eingependelt, aber mehr gab die Beinmuskulatur einfach nicht her - lichtete sich das Feld zusehends, als immer mehr Läufer ins Ziel kamen - und auch immer mehr Läufer vorzeitig ausstiegen. Von 111 Startern im Männerfeld sollten nur 71 ins Ziel kommen. Für mich selbst war die Quälerei nach 8:36:44 endlich beendet, was Platz 51 in der Einzelwertung bedeutete, beides weit, weit entfernt von meinen Zielen. Alexander (7:10, Platz 23) und Martin (7:16, Platz 27) hatten dagegen exzellente Rennen abgeliefert - und immerhin reichte meine Zeit noch für eine Punktlandung von uns auf Platz 5 der Mannschaftswertung, nur eine Minute vor Platz 6 (während Platz 4 auch bei Weltrekordtempo von mir nicht in Reichweite gewesen wäre).
Platz 5 mit der Mannschaft ist ein schönes Ergebnis; ansonsten bin ich stolz, dass ich das Rennen trotz allem zu Ende gebracht habe, und dankbar für ein weiteres tolles Nationalmannschaftserlebnis, was aber alles nichts daran ändert, dass meine Finisherzeit eindeutig sehr enttäuschend war. Nun ist, finde ich, für mich langsam aber sicher Mal wieder ein richtig gelungenes Rennen überfällig - hoffentlich schon im April beim London-Marathon, wo ich nächstes Jahr einen (aller Wahrscheinlichkeit nach allerletzten) Angriff auf meine Marathonbestzeit starten will!