100km Weltmeisterschaften Bernau -27.08.2022-

100km-Weltmeisterschaft
 
Eine Weltmeisterschaft als Langstreckenläufer im deutschen Nationaltrikot - für mich ist am 27. August ein großer Traum Wirklichkeit geworden! Bei der 100km-Heim-WM in Bernau bei Berlin habe ich mich in 6:54:46 ins Ziel gekämpft, und damit gleich eine ganze Reihe für mich äußerst zufriedenstellende Ergebnisse erreicht: Meine Bestzeit um neun Minuten verbessert, erstmals unter der 7-Stunden-Marke, WM-Platz 31, und, besonders schön, Platz 4 mit der deutschen Männermannschaft!
 
Schon die Vorfreude auf diesen Lauf war riesig - bei mir selbst sowieso, aber auch, was mich besonders gefreut hat, in meinem ganzen Umfeld. Familie, Verwandte, Freunde und Kollegen - alle finden die Idee, 100 Kilometer zu laufen, naturgemäß ziemlich verrückt, waren aber gleichzeitig Feuer und Flamme, haben mich ermutigt und unterstützt, und oft auch den Rennverlauf online verfolgt und enthusiastisch kommentiert. So viel Zuspruch und Unterstützung freuen mich natürlich sehr und spornen mich zusätzlich an. 
 
Für die WM qalifiziert hatte ich mich durch meinen vierten Platz bei meinem 100km-Debüt bei den deutschen Meisterschaften in Ubstadt-Weiher im April. Dabei hatte ich, nach etwas holpriger Vorbereitung mit diversen kleineren Verletzungen und Krankheiten, noch eine 7:03:45 zustande gebracht. Die muskulären Probleme, v.a. in den Hamstrings, verfolgten mich zunächst noch weiter, und vermiesten mir auch den Würzburg-Marathon Ende Mai, bei dem mir, nach zuletzt zwei Siegen (2016 und 2019) nur Platz 3 in 2:43 gelang. Eine merkliche Enttäuschung - wenig später kam aber neuer Ansporn in Form der offiziellen Nominierung für die 100km-Nationalmannschaft. Die muskulären Probleme ging ich nun offensiv an mit einigen regelmäßigen gezielten Stabiübungen und einer Fitnessstudiomitgliedschaft zwecks Kniebeugen und Kreuzheben, sowie einigen neuen Dehnübungen. Und siehe da, ab Ende Juni hatte ich die Problem wieder im Griff und konnte noch einen sehr soliden (wenn auch etwas kurzen) achtwöchigen Vorbereitungsblock einlegen. Nach sechs Wochen mit konstant zwischen 150-170km (plus zwei Taperingwochen), einigen starken langen Läufen (z.B. 50km in 3:20:09 - 4:00er Schnitt; 40km in 2:34:50 - 3:52er Schnitt), und auch endlich wieder besseren Tempoeinheiten (z.B. Halbmarathon allein auf der Bahn in 1:16:30) fühlte ich mich bereit für die WM. Sub-7 war das naheliegende Hauptziel, ich traute mir aber eigentlich auch ein Ergebnis von unter 6:50 zu. Der größte Unsicherheitsfaktor war das Wetter - lange war Sonne mit knapp 30 Grad angekündigt, was Bestzeiten sehr erschwert hätte. Dass sich die Vorhersage ein paar Tage vorher zu gut 20 Grad mit schweren Gewittern wandelte, war mir aber fast noch weniger lieb. Doch worin besteht das Wesen des Ultramarathons, wenn nicht in der Überwindung von Unannehmlichkeiten? Ich ließ mich also von den Vorhersagen nicht verrückt machen, und freute mich auf das Abenteuer WM. 
 
Dieses fing schon im Zug zum Flughafen Stansted an - auf dem Weg zum Bahnhof per Fahrrad etwas nass geworden, schlüpfte ich kurzentschlossen in meine trockene Nationalmannschaftskleidung. Natürlich nicht das Wettkampftrikot, aber man bekommt netterweise als Mitglied der Nationalmannschaft auch noch einen Trainingsanzug, weitere Shirts, Regenjacke etc. Als ich im Zug das knallgelbe "Germany"-Shirt überzog, stellte sich sofort ein schwer zu beschreibendes Gefühl von gesteigertem Selbstbewusstsein und leisem Stolz ein. Dieses Outfit habe ich mir hart erarbeitet - nun darf ich für mein Heimatland laufen! Sofort sitzt und geht man etwas aufrechter. 
Als ich durch die Tür des Athletenhotels am Berliner Alexanderplatz trete, stehen schon allerorten sehnige Gestalten in ihren jeweiligen Landesfarben herum. Ich bin gerade noch rechtzeitig zum Mittagessen angekommen, wozu ich mich spontan zu einer Gruppe britischer Läufer setze. Anschließend fachsimple ich im Foyer längere Zeit mit einem flotten Belgier, später komme ich bei ein paar lockeren km im Park Friedrichshain mit zwei Mitgliedern der finnischen Delegation ins Gespräch. Einfach ein großartiges Gefühl, sich als Ultraläufer unter Ultraläufern aus allen möglichen Ländern zu bewegen - über 40 Nationen sind übermorgen am Start. Später beim Abendessen und im Laufe der nächsten Tage habe ich dann reichlich Gelegenheit, die anderen Läufer und Betreuer im deutschen Team persönlich kennenzulernen (nach ein paar netten Videokonferenzen im Vorfeld), wobei sich schnell ein freundlicher und sehr positiver Mannschaftsgeist entwickelt, der sich über das ganze verlängerte WM-Wochenende durchzieht. Im Männerteam trete ich an mit dem deutschen Meister Alexander Bock, unserem sehr erfahrenen Teamchef André Collet, dem deutschen Vizemeister Tim Schwippel und dem deutschen Vizemeister von 2021 Martin Ahlburg. Essentiell für die Mannschaft sind auch unsere Betreuer - wobei ich das Glück habe, mit Angela, der Frau von Ultralauf-Legende Michael Sommer, eine sehr erfahrene Betreuerin an der Strecke zu haben - sowie unser hochkompetenter Physio Gerald Mexner. 
 
Am Freitagnachmittag findet eine kleine Flaggenparade in Bernau nahe bei der Wettkampfstrecke statt. Alle Nationen marschieren, in Mannschaftskleidung und hinter ihren Nationalflaggen, ein paar hundert Meter die Bernauer Stadtmauer entlang bis zur Festhalle. Irgendwer drückt mir die schwarz-rot-goldene Flagge in die Hand, die ich natürlich sehr gerne vor der Mannschaft hertrage. Erinnerungen an meine Wehrdienstzeiten werden wach, als ich bei mehreren Veranstaltungen dem Heeresmusikkorps mit dem Schellenbaum vorausschreiten durfte. Bei der WM-Eröffnungsfeier halten die Würdenträger und Funktionäre ihre Reden bewundernswert kurz, sodass die schöne Zeremonie das - für den Wettkampf sehr wichtige - Abendessen nicht unnötig hinauszögert. Ich selbst, nicht gerade bekannt für einen Spatzenmagen, werde dabei noch völlig in den Schatten gestellt von unserem Spitzenläufer Alexander, der ein aus vier Tellern aufsteigendes Nudelgebirge restlos vernichtet. Das Ergebnis am nächsten Tag gibt seiner Carboloadingstrategie allerdings völlig Recht - aber ich greife vor. Nach dem Abendessen steht noch die Vorbereitung der Flaschen für die bevorstehenden 13 Runden an, mit Beschriftung und Befestigung von Gels und Energieriegeln. Dann noch ein kurzes Telefonat mit meiner Frau Lorna, die liebenswerterweise zu Hause auf die Kinder aufpasst und mich aus der Ferne auf der Liveübertragung anfeuern wird - wie immer: many many thanks for your support! - dann ab ins Bett.
 
Am Wettkampf-Samstag klingelt der Wecker um 3:30. Ein großzügiges Frühstück, dann geht es per Bus nach Bernau zum Start. Dabei bloß nicht wieder einnicken, der Körper soll sich hormonell auf Hochleistung einstellen! Über die bevorstehenden 100km sollte man aber auch nicht zu genau nachdenken - die Entfernung ist so weit, die Dauer so lang, es wäre schlichtweg entmutigend. Stattdessen am Start noch ein paar Scherzworte mit den Mannschaftskollegen, ein Teamphoto in den schicken Nationaltrikots, und schon ist es 6:30 - Zeit für Action!
 
Erwartungsgemäß geht vorne gleich die Post ab, eine ganze Gruppe schlägt Weltrekordtempo an - während ich mich strikt an meinen Plan halte und mich nicht mitreißen lasse. Km 1 in 4:02 - perfekt! 4:06 wären im Schnitt für 6:50 nötig, ich möchte also keinesfalls schneller als 4:00 angehen. Nach einer kleinen Einführungsrunde geht es auf die 7,5km-Hauptrunde, die wir heute 13 Mal durchlaufen werden. Ein kurzer Abschnitt führt durch einen Schulgebäudekomplex mit der Verpflegungsstrecke, wo jede Nation ihr eigenes Verpflegungszelt hat, ansonsten laufen wir durchgehend auf einer Wendepunktstrecke auf einer flachen Waldstraße. 31:07 brauche ich für die erste Runde - 30:45 wäre für 6:50 nötig, 31:30 für 7:00. Ich bin also sogar eine Spur zu langsam - was aber nur gut ist! Ein überschneller Start ist die viel größere Gefahr. Kontrolliert steigere ich das Tempo: Eine Runde in 30:54, die nächste in 30:03. 25km geschafft. Ungeachtet der pessimistischen Vorhersagen ist das Wetter mit bewölkten 20 Grad überhaupt kein Problem. Ich fühle mich stark, die Verpflegung klappt reibungslos, Angela reicht mir die Flaschen, der Magen nimmt alles auf. Zunächst laufe ich in einer Gruppe, die aber nach ein paar Runden zerbrökelt. Ab dann bin ich auf mich allein gestellt - und, dank meines konservativen Starttempos, hauptsächlich mit Überholen beschäftigt, was natürlich Freude macht. 30:08. Auf der nächsten Runde ein schneller Dixi-Boxenstop, 30:51. 40km geschafft. Ich fühle mich bärenstark und nun sogar etwas euphorisch. Rückblickend ist klar: Immer noch wäre Zurückhaltung angesagt gewesen. Aber wenn man sich bei der WM nach 40km so grandios fühlt, ist Zurückhaltung schwierig, und ich schalte einen Gang hoch: 29:23 - meine schnellste Runde. Dann 29:45, 55km geschafft. Ich liege vielversprechend auf Platz 46. Nun werden die Beine aber ziemlich unvermittelt sehr, sehr schwer, und ich muss im Tempo nachgeben: 30:38, 31:58 - 70km. Immerhin ist durch die lange Wendepunktstrecke für etwas Unterhaltung gesorgt, da einem das ganze Feld über viele km wieder entgegenkommt. Dadurch kann man die Entwicklungen an der Spitze verfolgen (wo die Japaner erwartungsgemäß dem Sieg entgegenstürmen), sich kleine Zwischenziele setzen ("schneller, Johannes - nächste Runde willst du den Italiener da schon vor dem Verkehrsschild treffen"), und die entgegenkommenden Mannschaftskameraden anfeuern. Vorne liefert Alexander einen sehr starken Wettkampf ab, und nicht weit dahinter läuft André das Rennen seines Lebens. Auch Tim liegt lange vor mir, dann ist er plötztlich hinter mir, dann ganz weg - Magenprobleme, Schicht im Schacht. Martin läuft noch etwas hinter mir ein stabiles Rennen. Plötzlich bin ich also die deutsche Nr 3 und damit Teil der Mannschaftswertung (welche sich aus den ersten drei Finishern jeder Nation zusammensetzt)! Meine Beine sind aber weiterhin sehr schwer, v.a. die Oberschenkel sind zerschossen; an meinem linken Schienbein macht sich irgendein Schaden zunehmend bemerkbar, und ich habe auch mental einen Hänger. Mehr ist gerade nicht drin als mich, mit viel Cola und Koffeingels, auf knapp über 4:20er Tempo zu stabilisieren: 32:39, 32:43, 32:51 (Zahlen, Zahlen - dahinter stecken eineinhalb Stunden selbstverursachtes Leiden und verbissene Selbstüberwindung). 92,5km geschafft - letzte Runde! Das Ziel ist nun greifbar, außerdem will ich unbedingt noch einen Belgier und einen Franzosen einkassieren, die mich vor ein paar Runden überholt haben, aber seitdem auch merklich langsamer geworden sind. Gedacht - getan. Ich schaffe es doch nochmal, das Tempo wieder etwas hochzuschrauben und flott und endgültig an den beiden Konkurrenten vorbeizuziehen. 31:23! Nun noch die kleine Abschlussrunde - eine Art Ehrenrunde - dann bin ich endlich im Ziel: 6:54:45!! Platz einunddreißig - bei der Weltmeisterschaft! Sehr, sehr langsam mache ich mich auf den Weg zu den Duschen, schmerzenden Schrittes (mit nur noch acht Zehennägeln und einem blutblasengeröteten Schuh) und hochzufrieden.
 
Vorne hat Alexander in einem ungewöhnlich starken Feld in 6:34 spektakulär Platz 10 erkämpft, kurz dahinter ist André in fantastischen 6:38 einen M50-Weltrekord gelaufen. Für mich selbst mischt sich - ich kann es nicht leugnen - in die große Zufriedenheit auch eine Spur Enttäuschung, als bei der Siegerehrung die Südafrikaner ihre Team-Bronzemedallien in Empfang nehmen, nachdem sie kollektiv nur gut 2 Minuten schneller als wir waren. Alexander und André sind definitiv am Maximum gelaufen und sind exzellente Zeiten gelaufen - aber hätte ich diese 2 Minuten nicht noch irgendwo herauslaufen können? Mit meinen Unterdistanzleistungen sollte ich eigentlich nicht allzu weit von den beiden entfernt sein. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass ich aus irgendwelchen Gründen heute mental nicht ganz bei 100% war, dass es mir nicht gelungen ist, das Allerletzte aus mir herauszuholen, wie man es für eine WM tun sollte. Und 6:50 hatte ich mir wirklich zugetraut. Aber das sind letztendlich nur perfektionistische Überlegungen am Rande eines großartigen Rennens im Rahmen des großartigen Erlebnisses 100km-WM! Und um auch die Selbstkritik ins Positive zu drehen: Ich will über die 100km unbedingt noch schneller werden und noch mehr erreichen, national und hoffentlich auch wieder international!
 
Erst einmal freue ich mich nun auf zwei komplett lauffreie Wochen mit meiner Familie am Gardasee und einen sehr lockeren Wiedereinstieg ins Training, bevor es dann ab Oktober an die Grundlagenarbeit für die Saison 2023 geht.