100km-Debüt: 7:03; 4. Platz DM, und mögliche WM-Quali!

von Johannes Arens

Dreizehn Jahre habe ich damit verbracht, meine Marathon-Bestzeit sukzessive von 3:41 (2008) auf 2:23 (2021) zu steigern. Dieses Jahr war für mich klar: Ich brauche etwas Neues! Aber selbstverständlich weiterhin im Ausdauersport. Triathlon ist häufig die erste Wahl für abwechslungshungrige Läufer, kommt aber für mich nicht in Frage – zu zeitaufwändig, und ich bin ein grottenschlechter Schwimmer. Außerdem will ich auf meine Marathonerfolge aufbauen – bleiben wir also beim Laufsport. Auf Marathon folgt: Ultramarathon! (Für die Uneingeweihten: Alles über die klassischen 42,195 km hinaus!) An den relativ populären Trail- und Landschaftsultras habe ich (vorerst!) wenig Interesse – wie beim Marathon reizt mich vor allem die Jagd nach Bestzeiten, auf flachen, bestenlistenfähigen Strecken. Womit wir beim Straßenultra wären. 50km werden häufig gelaufen, aber das ist mir zu marathonähnlich. Die nächste, klassische Distanz sind die 100km – das klingt doch nach einer tollen Herausforderung!  

Als ich Ende 2021 etwas recherchiere, stelle ich zudem fest: Im August 2022 steht die 100km-Weltmeisterschaft an – noch dazu im eigenen Land, in Berlin. Und der Ultramarathon ist, wie ich schon länger wusste, praktisch eine reine Amateurveranstaltung, anders als der durchprofessionalisierte Marathon. Könnte da etwas für mich zu reißen sein in Richtung Nationalmannschaft? Das wäre natürlich ein echter sportlicher Höhepunkt! 

Die Norm für den 100km-A-Kader liegt bei 7:00 Stunden, wobei eine WM-Quali unter Umständen auch mit Zeiten etwas über 7 Stunden möglich ist, je nach Leistungsdichte der Konkurrenz. 7 Stunden sollten, bei meinen Unterdistanzleistungen, im Bereich des Möglichen liegen, auch wenn es natürlich über die langen Strecken viele Unwägbarkeiten gibt. Damit ist also gleich ein schönes, festes, ambitioniertes, aber nicht völlig utopisches Ziel formuliert: Angriff auf die 7 Stunden und Qualifikation für die Nationalmannschaft! 

Schon Ende 2021 setze ich mich mit der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung (DUV) in Verbindung, und kam mit André Collet in Kontakt, seines Zeichens amtierender deutscher Meister über 100km und Teammanager der 100km-Nationalmannschaft. Netterweise beantwortete André alle meine Fragen, hatte gute und praktische Ratschläge parat, und bestätigte, dass für das Frühjar 2022 die nächste deutsche 100km-Meisterschaft geplant war. Womit mein nächstes Ziel konkret feststand: Möglichst unter 7 Stunden bei der DM und eine möglichst gute Platzierung, um mich für die Nationalmannschaft zu empfehlen. 

Leider verlief meine Vorbereitung ausgesprochen holprig. Zunächst einmal habe ich seit dem Herbst unerklärlicherweise dramatisch an Tempofähigkeit eingebüßt, und diese stellte sich auch mit Tempotraining nicht wieder ein – übrigens bis heute nicht. Alle Intervalle und Tempoläufe fallen dramatisch langsamer aus als noch vor ein paar Monaten, jeder Versuch, etwas Tempo zu machen, fällt einfach unglaublich schwer. Keine Ahnung warum. Immerhin – für den 100er brauche ich die höchsten Gänge nicht, und meine langen Läufe waren halbwegs solide. Wenn nicht diverse muskuläre Probleme in den Oberschenkeln gewesen wären, die mich praktisch durchgehend plagten... Und dann: Mitte Januar rutschte ich auf der Treppe aus, und schlug mir äußerst schmerzhaft das Steißbein an. Meine ersten Worte zu Lorna, während ich wie gelähmt am Treppenende lag: „Season over!" Die Prellung war aber weniger schwer als befürchtet, bald war ich wieder läuferisch voll in Aktion. Aber nicht für lange: Mitte Februar steckte ich mich mit Corona an. Einen Tag lag ich flach. Wieder einige Tage Trainingsausfall. Bald darauf gelang mir aber ein langer Trainingslauf über 52km in 4:09er Schnitt (also auf Kurs für sub-7) – das machte etwas Mut!  

Dann der nächste schwere Rückschlag: An meinem 32. Geburtstag am 6. März lief ich den Cambridge Half Marathon als Vorbereitungswettkampf – und musste nach 5km mit urplötzlichen, massiven Krämpfen in der hinteren Oberschenkelmuskulatur den Wettkampf abbrechen. Zum ersten Mal überhaupt (wenn wir Mal von einem unrühmlichen 800m-Lauf als Viertklässler absehen)! Selbst langsames Joggen war tagelang völlig unmöglich. Den 100er schrieb ich schon ab. Aber wieder ging es schneller als erwartet aufwärts, eine Woche später konnte ich wieder laufen, zwei Wochen später lief ich im Training 60km in 4:05er Schnitt (Auf Kurs für 6:49 über 100km). Doch zehn Tage vor der DM wieder ein Rückschlag: Meine Kinder gaben eine Magen-Darm-Geschichte an mich weiter, ich lag einen Tag komplett flach, und brauchte mehrere Tage zur Erholung.  

Diese zahlreichen Rückschläge schlugen sich deutlich in meinen viel zu abwechslungsreichen und in Summe deutlich zu niedrigen Wochenkilometerumfängen in den letzten 16 Wochen vor dem 100er nieder: 95, 89, 46, 118, 139, 180, 82, 118, 144, 162, 62, 26, 181, 149, 37, 49. 

Dementsprechend gehe ich am 9. April mit deutlich gedämpften Erwartungen (und 4-5 kg mehr auf den Rippen als im letzten Herbst) an den Start. Ich habe mir ein verlängertes Wochenende freigenommen, sodass ich stressfrei nach Ubstadt-Weiher anreisen und am Tag vor dem Wettkampf im nahen Bensheim bei meinem Patenonkel entspannen kann. Lorna passt derweil liebenswerterweise für vier Tage allein in Cambridge auf die Kinder auf.  

Immerhin: Die angekündigten Regenschauer nebst Sturmböen treten nicht ein, ich muss mich am Wettkampfmorgen nur mit knackiger Kälte und etwas Wind auseinandersetzen – und mit einem außergewöhnlich stark besetzten Läuferfeld, denn ich bin nicht der Einzige, der unbedingt zur Heim-WM will! Favorit ist Florian Neuschwander, ein echter Profi und Weltrekordhalter über 100km auf dem Laufband (6:26). Tim Schwippel bringt eine flotte Halbmarathon-PB von 1:07 mit, Alexander Bock eine 10km-BP von 31:10 nebst einem Sieg über 50km im Vorbereitungswettkampf auf der DM-Strecke. Max Kirschbaum ist ein starker Trailläufer, Felix Weber über diverse Ultradistanzen sehr erfahren und schnell. André Collet läuft heute nicht mit, ist aber durch seinen letztjährigen DM-Sieg in 6:46 für die WM schon praktisch gesetzt (und ist heute, in seiner Funktion als Teammanager, vor Ort). Wenn ich eine Chance auf die WM haben will, muss ich mich unbedingt unter die besten sechs der deutschen Rangliste seit 2021 schieben, heute also minimal Platz 5 schaffen – schon das wird eng! 

Sehr gut gefällt mir die freundschaftlich-kameradschaftliche Atmosphäre unter Läufern (knapp 100 sind am Start) und Betreuern, die den ganzen Tag über anhält. Vor dem Start bespreche ich mich etwas mit André („Auf keinen Fall zu schnell loslaufen, auch wenn vorne die Post abgeht!"), lerne kurz Flo Neuschwander kennen, dann wird die Nationalhymne gesungen – und dann geht es los! 20 Runden á 5km sind heute zu absolvieren, immer um den Hardtsee herum, auf 90% Radwegen mit ein paar Schotterabschnitten. Beruhigenderweise fühle ich mich sehr gut auf den ersten Kilometern – so soll es sein! Und wie geplant schaffe ich es, mich zurückzuhalten und die Favoritengruppe ziehen zu lassen. 20:29 Minuten brauche ich für die erste Runde, genau wie geplant, denn für sub7 muss ich im Schnitt knapp unter 21 Minuten pro Runde bleiben. Das ziehe ich über die ersten sieben Runden gut durch, trotz mehrerer leider nötigen Pinkelpausen. Flo, Alexander, Tim, und Max entschwinden immer weiter in die Ferne, während Felix und ich x-Mal die Plätze 5 und 6 wechseln derweil uns Frank Merbach, ein weiterer Traillaufspezialist, dicht auf den Fersen bleibt. 

Etwa zwischen km 15-30 habe ich merkliche Probleme in der Hüfte, die aber wie erhofft und erwartet (man kennt seinen Laufapparat nach so vielen Trainingskilometern doch recht gut) wieder komplett verschwinden. Dafür ereilt mich etwa bei km 30 die Erkenntnis: Junge, deine Beine fühlen sich auf einmal ziemlich müde an! Naja, es sind ja nur noch 70km zu laufen....  

Die Kalorienaufnahme – naturgemäß ein sehr wichtiger Faktor im Ultra – bereitet dagegen keine Probleme. Am Ende jeder Runde schnappe ich mir ein Gel, oder ab und zu eine Banane von meinem Verpflegungstisch – und gelegentlich reicht mir freundlicherweise André Flasche und Verpflegung an.  

Die 50km passiere ich in 3:28:27 – noch auf sub7-Kurs, aber die Beine werden schon schwer! Jetzt heißt es dranbleiben. Interessanterweise erlebe ich bei diesem Ultra (wie schon in der Vorbereitung) viel mehr Hochs und Tiefs als im Marathon, welcher viel gleichmäßiger verläuft (oder im schlechten Fall in ein Tief abrutscht, aus dem es dann keine Rettung mehr gibt). Um km50 zum Beispiel fühle ich mich ziemlich schlecht; dann geht es mir für ein paar Runden wieder relativ gut, dann habe ich ca zwischen km 70-80 wieder ein Tief (langsamste Runde des Tages: Runde 15 in 22:25). Aber dass es richtig hart werden kann, und man sich dann bewähren muss, ist ja gerade der Reiz der langen Strecke – und diese fordert schon ihre Opfer: Vorne ist Flo überraschend ausgestiegen. Mein Begleiter über viele km, Felix, bekommt ab km 55 muskuläre Probleme und fällt weit zurück. Frank, der mir lange sehr dicht auf den Fersen war – einmal pro Runde sehe ich ihn auf der Gegengeraden, immer mit sehr entschlossenem Blick – bricht bei km 75 plötzlich brutal ein und ist von der Bildfläche verschwunden. So lichtet sich das Feld, und ich liege schließlich auf Platz 4, mit viel Luft nach vorn und hinten. Aber auch ich muss leiden, trotz Unterstützung von André („Hier ist eine Cola – hau sie weg, Junge!" nebst ultralauferfahrungsgesättigten Ratschlägen („Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst! Hirn ausschalten! An nichts denken!"). Da trifft es sich sehr, sehr gut, dass mich bei km 80 der Zweitplatzierte Tim überrundet. Er ist auch am Leiden, ich kann, wenn ich nur etwas beschleunige, mit ihm mithalten. So schlagen wir zusammen ein solides 21-Minuten-Tempo an, und laufen die nächsten langen, harten drei Runden gemeinsam. Ein paar Mal falle ich etwas zurück – Tim winkt mich heran und treibt mich wieder voran. Wenig später hat er einen Hänger im Gegenwind, ich dirgiere ihn hinter mich und mache etwas Tempo. Auf seinem letzten Kilometer spurtet er schließlich davon zu seinem wohlverdienten zweiten Platz in bärenstarken 6:40 (hinter dem noch bärenstarkeren Alexander in 6:37). Bleibt mir noch eine Runde allein. Naturgemäß sind meine Beine inzwischen extrem schwer, aber ich beiße mich durch, „genieße" noch einmal die inzwischen sattsam bekannte Runde: Ein letzter Schluck Wasser vom Verpflegungstisch; der rutschige Abschnitt; die 180-Grad-Kurve in den Gegenwind; das Waldstück; die zwei langen Geraden in der Sonne; der Schotterweg; der Weg am Seeufer entlang; der Weg durch den Campingplatz; und endlich, endlich die Zielgerade, und dann sind die 100km geschafft, nach 7:03:45 Stunden! Platz vier in der deutschen Meisterschaft!  

Im Ziel bin ich so erledigt wie noch nie im Leben. Haben die Beine einmal die Genehmigung erhalten, das Laufen einzustellen, können sie auch nicht mehr gehen oder stehen! André und ein paar andere Betreuer nehmen mich in Empfang – ich habe an diese Minuten nur noch vage Erinnerungen, und habe vermutlich ziemlich inkohärente Satzfetzen von mir gegeben. Mann, war ich platt! Ich setze mich auf den Boden. Ein Fehler - Aufstehen unmöglich! Michael Sommer, x-maliger deutscher Meister und DLV-Berater Ultramarathon, zieht mich wieder hoch. Andrés Frau bringt mir netterweise einen Campingstuhl, in den ich erstmal kollabiere. Nach einer Weile sortiert sich mein Kopf so langsam wieder, und ich kann meinen Körper auf vollkommen erschöpften Beinen sehr, sehr langsam Richtung Dusche dirigieren. 

Nach etwa einer Stunde geht es mir geistig und gesamtkörperlich wieder etwas besser – die Beine sind aber natürlich immer noch in Trümmern, wie es sich gehört nach einem solchen Rennen. Ich komme mit André und Michael weiter ins Gespräch, und bekomme zu meiner unbeschreiblichen Freude bestätigt, dass ich mit meiner heutigen Leistung sehr gute Aussichten habe, für die Weltmeisterschaft im August in die Nationalmannschaft nominiert zu werden! Mit dem heutigen Ergebnis bin ich auf Platz 5 der deutschen Rangliste, bis zu sechs deutsche Läufer können nominiert werden. Nun muss ich bis zum Stichtag Mitte Juni warten, ob sich noch zwei Konkurrenten vor mich schieben – sehr unwahrscheinlich, meinen die Experten. Schnelle 100km-Wettkämpfe sind rar gesät, und wer Ambitionen hatte, war heute am Start.

Auf jeden Fall bin ich mit meinem 100km-Debüt hochzufrieden. Die 7-Stunden-Marke konnte ich zwar noch nicht knacken, aber ich bin, trotz vieler Probleme in der Vorbereitung, schon sehr nahe herangekommen. Mit Platz 4 bin ich auch sehr zufrieden - Platz 3 ging an Max in 6:55, deutlich zu schnell für mich heute. Mit einer besseren Vorbereitung, und nun auch mit der Erfahrung eines komplettierten 100km-Laufs, sehe ich aber für die Zukunft für mich noch viel Potential nach oben auf den Ultradistanzen. Drückt mir die Daumen, dass ich Gelegenheit bekomme, das demnächst schon im Nationaltrikot unter Beweis zu stellen!

 

Das ganze Laufteam gratuliert Johannes zu seiner bravorösen und sehr soliden Leistung bei seinem ersten 100 km Wettkampf zu Platz 4 (gesamt) und Platz 2 in der AK bei der Deutschen Meisterschaft.
Gesamtfinisher: 51, alle Ergebnisse hier:
https://my.raceresult.com/189438/results#1_BC3D37