2:26:11 - Vereinsrekord und neue PB für Johannes Arens

2:26:11 – endlich, endlich, endlich ist es mir gelungen, die Marke von 2:30 Stunden im Marathon zu knacken. Und wie! Meine 2:26:11 von Bedford liegen weit, weit unter meinem langjährigen Traumziel von unter 2:30, volle 5:26 Minuten unter meiner alten Bestzeit, und – als i-Tüpfelchen – sogar noch um 17 Sekunden unter Bruno Helmers Vereinsrekord aus dem Jahre 1988! 

 

Weil dieser Erfolg für mich das Erreichen eines sehr lange anvisierten sportlichen Lebenszieles bedeutet, fange ich mit einem kleinen Resümee meines Weges hin zu dieser 2:26:11 an. Gemessen ab Anfang 2010, als ich mit halbwegs ernsthaftem Lauftraining und mit meinem Lauftagebuch begann, war dieser Weg immerhin fast einen Erdumfang lang – über 38.000 Trainings- und Wettkampfkilometer. 

Anfang 2010, als gerade 20-jähriger Bundeswehrsoldat, war mein vermeintlich ambitioniert-realistisches sportliches Lebensziel, einmal einen Marathon unter drei Stunden zu laufen. 2008 hatte ich, mit nur wenig Training und wenig Ahnung, aber schon ganz im Banne des Mythos Marathon, bei meinem Debüt in Würzburg bereits vielversprechende 3:41 geschafft. Ich bereitete mich 2010 also erstmals ernsthaft auf einen Marathon vor, und schaffte, mit nur etwa 50-60km Training pro Woche, in München gleich auf Anhieb 2:57. Neue Ziele mussten her. 

In den folgenden Jahren schraubte ich kontinuierlich meine Trainingsumfänge und -intensitäten nach oben – immer allein und niemals mit Trainer, mit angelesenem Trainingswissen aus Laufbüchern und dem Internet (Hauptquelle zunächst, und mit prägender Wirkung bis heute: Peter Greif).  

Über die Stationen 2:47 (Lindau 2011) und 2:41 (München 2012, nach sehr leidvoller zweiter Hälfte, mein Vater erzählt bis heute von dem schmerzlichen Anblick, den ich danach bot) ging es in die Saison 2013, in der mir mein Auslandssemester in Orenburg (Russland) neben großartigen Erfahrungen mit Land und Leuten auch viel freie Zeit brachte. Gepaart mit erheblichem Trainingseifer führte das über den Sommer 2013 zu einer Reihe von schnellen Unterdistanzzeiten und als Höhepunkt zu 2:31:55 beim München Marathon (Platz 20 gesamt, Platz 17 deutsche Meisterschaften). Damals dachte ich, es müsse nun quasi unvermeidlicherweise immer so weitergehen, von Leistungssprung zu Leistungssprung, und ich sah mich schon in ein paar Jahren in der erweiterten deutschen Spitze.  

Aber so läuft das im Leben natürlich nicht. Statt weiterer Höhenflüge holte ich mir durch überambitioniertes Wintertraining eine langwierige Knieverletzung nebst Totalausfall für die Saison 2014. Inzwischen nach Großbritannien übergesiedelt, definierte ich Ende 2014 meine Ziele bescheidener: Die 2:30 will ich knacken! Wer hätte gedacht, wie steinig dieser Weg werden würde:  

2015 erstmals ein Frühjahrsmarathon – Platz zwei in Würzburg, ein schöner Erfolg, aber die Zeit von nur 2:37 nach einem bösen Einbruch in der zweiten Hälfte war doch bitter. Ende 2015 lief es in Münster nur wenig besser – 2:35.  

Anfang 2016 reichten 2:38 in Würzburg zum Gesamtsieg, und im Sommer 2016 war ich, nach einem sechswöchigen Praktikum in Hamburg mit genug Zeit für viele Kilometer um die Alster und auf der Bahn, endlich wieder in großartiger Form für einen Angriff auf die 2:30,. Dann, eine Woche vor dem Marathon, bei einem lockeren Lauf ein dummer Sturz auf die Hüfte – zwei Monate Totalausfall. Wieder nichts.  

2017 das Kontrastprogramm: Ein hartnäckiger Husten im Sommer, ein katastrophaler Marathon Anfang September in Ebermannstadt in 2:50, die Saison scheinbar im Eimer. Aber nach zwei Wochen Erholung und sechs Wochen Intensivtraining bis 180km/Woche folgte ziemlich überraschend in Frankfurt eine 2:31:37 – (knapp) neue Bestzeit. Ein Lichtblick.  

2018 legte ich, hochzeitsbedingt, erstmals freiwillig eine Marathonpause ein. 

2019 sah es wieder bestens aus: Im Frühjahr trotz (verletzungsbedingt) wenig Training schon eine vielversprechende 2:34 in Würzburg, dann ein exzellenter Trainingssommer, eine Bombenzeit im Halbmarathon von 1:10:12. Dann fing ich mir, eine Woche vor dem München-Marathon, von meiner neugeborenen Tochter Charlotte eine Erkältung ein. Die erste Hälfte lief noch gut (1:14), dann war quasi von einer Sekunde zur anderen der Stecker gezogen, die zweite Hälfte eine Katastrophe, das Ziel erreichte ich erst nach 2:46. Wieder ein totaler Fehlschlag. 

Im März 2020 wurde ich 30 Jahre alt. Wieder Mal war ich verletzt. Dann kam auch noch Corona. Aber wie mir inzwischen klar geworden ist, scheint mir läuferisch nichts so gut zu tun wie eine temporäre radikale Vereinfachung meiner Lebensumstände: 

  • 2009/10: Bundeswehr: Viel Zeit, kaum Ablenkungen: Sprung von 3:41 auf 2:57.  
  • 2013: Russland: Viel Zeit, kaum Ablenkungen: Sprung von 2:41 auf 2:31.  
  • 2016: Praktikum in Hamburg: Regelmäßigkeit durch Arbeit, immer noch genug Zeit, kaum Ablenkungen: Großartige Form, Umsetzung im Marathon nur durch dummen Sturz verhindert.  

 

2020 also: Corona und Lockdown. Keinerlei Termine und Treffen. Keine Ablenkungen. Das Muster wiederholt sich also – mit einer bzw. zwei positiven Neuerungen: Eine wunderbare Ehefrau, die mich in meiner Lauferei dankenswerterweise sehr unterstützt, und eine kleine Tochter, die netterweise seit Januar grundsätzlich 10-12 Stunden durchschläft und sich gern im Babyjogger spazieren fahren lässt. Die Umstellung auf frühmorgendliches (und somit gleichermaßen arbeits- und familienfreundliches) Training ist mir gut gelungen, selbst für Tempo- und Intervalleinheiten. Sonntagnachmittags mache ich meine langen Läufe. Seit April habe ich absolut jeden Tag trainiert und jeden Monat über 400km geschafft, meistens über 500. Meine km-Umfänge für die letzten 12 Wochen vor dem Bedford-Marathon (die Erholungswoche unmittelbar vor dem Wettkampf nicht mitgezählt): 108, 113, 144, 121, 107, 118, 161, 130, 157, 102, 127, 115. Nicht spektakulär, aber konstant.   

Auch die Kerneinheiten in der Vorbereitung auf Bedford waren sehr vielversprechend. Neben dem sehr hügeligen Lee Valley Halbmarathon in soliden 1:11:58 standen an Trainingseinheiten z.B. zu Buche: 10x1000m (Trabpause 400m) mit Schnitt 3:08; 4x3000m (Trabpause 1000m) mit Schnitt 9:51; 15km Tempowechsellauf (abwechselnd 1km um 3:20, ein km um 3:40) in 52:29; zwei 10km-Tempoläufe je knapp über 33min; 36km in 2:20:46 (9km-Abschnitte in 37:00, 36:47, 34:31, 32:28); 21,1km Tempolauf in 1:14:19. 

Zu guter Letzt konnte mich Lorna sogar zum jahrelang herbeigesehnten Gewichtsverlust motivieren und mahnen. Vor der Taperingwoche war ich unter 75kg angekommen, am Wettkampfmorgen war ich, voll mit Kohlenhydraten, immer noch bei (für mich) sehr erfreulichen 76,3kg.  

 

Die Pandemie war also, rein läuferisch betrachtet, für mich ein Glücksfall und die Vorbereitung auf Bedford praktisch perfekt. Bleiben noch die äußeren Bedingungen am Wettkampftag, aber auch hier kam alles perfekt zusammen: Neun Grad, wolkig aber trocken, kein Wind – Läuferherz, was willst du mehr? Dazu ein komplett flacher Kurs – der Bedford Marathon findet nämlich auf einem Autorennkurs statt, wie schon der leichte Benzingeruch verrät, der Lorna, Charlotte und mir bei unserer Ankunft am Sonntagmorgen entgegenschlägt. Mit Rammstein im Ohr gehe ich zum Start. Flott schlüpfe ich in die Wettkampfmontur, Lorna befestigt meine Startnummer am TG-Kitzingen-Trikot. Aufs Warmlaufen verzichte ich bei Marathons inzwischen ganz – etwas steifere Glieder auf dem ersten Kilometer gegen einen Schuss zusätzlichen Kohlenhydrat-Sprit auf dem letzten Kilometer ist ein guter Tausch.  

Letztes Jahr reichten 2:40 hier zum Sieg, diesmal meldet sich, zur coronakonformen Startaufstellung in einer langen Zweierreihe, sogar ein Läufer für unter 2:20 an die Spitze. Beim Aufruf für sub-2:30 bin ich zur Stelle und nehme den zweiten Platz direkt an der Startlinie ein. Hinter mir spricht sich eine Gruppe auf ein Tempo für genau unter 2:30 ab, und bringt mich damit in ein kleines Dilemma: Eigentlich wäre so eine 2:29er Gruppe perfekt für mein langjähriges sub-2:30-Ziel – aber, ich gestehe es, ich wusste von vornherein: Die Vorbereitung war perfekt, heute ist alles perfekt – heute will ich mehr! Und ich war mental seit Monaten voll auf einen Sololauf eingestellt – hätte es durch Corona überhaupt keine Wettkämpfe gegeben, wäre ich meinen Herbstmarathon allein auf der Tartanbahn gelaufen. Ich gehe also nach dem Startschuss lieber voll ins Risiko, und setze mich von der 2:29er Gruppe ab, während der sub-2:20 Läufer mir seinerseits davonzieht. Die Einführungsrunde über 2,2km absolviere ich in 7:54 – genau im Plan. Danach sind acht Runden à 5km zu laufen. Die ganze Strecke ist vom britischen Leichtathletikverband lizensiert und offiziell vermessen. 

17:18 Minuten brauche ich für die erste 5km-Runde – sehr gut, denn schon 17:45 Minuten wäre genau auf Kurs sub-2:30, aber ich will ja mehr, und ich fühle mich bestens! Die Meilenmarkierungen des Veranstalters sind leider unbrauchbar, da nicht korrekt platziert – warum schaffen es Veranstalter fast nie, solche Schilder richtig aufzustellen? Ich begnüge mich also mit den 5km-Splits nach jeder Runde. Die Strecke ist eintönig und ablenkungsfrei: Breite Asphaltstraßen in einer flachen Graslandschaft, ein paar lange Geraden, ein paar weite Kurven.  

17:29 Minuten brauche ich für Runde zwei – so habe ich mir das vorgestellt, mein Tempo ist immer noch deutlich schneller als für sub2:30 nötig! Aber ein Problem ist aufgetaucht – ein erheblicher Druckschmerz im Unterbauch. Ich denke, dass es die Blase sein muss, und lege einen Boxenstopp ein – ganz wortwörtlich, denn die Toilettenkabinen stehen hier tatsächlich in der Boxengasse! Unverständlicherweise sind keine dieser Toiletten (die einzigen auf dem Gelände) für die im Wettkampf befindlichen Läufer reserviert, und als ich heranstürme, sind alle Boxen von Läufern besetzt, die demnächst auf die Halbmarathondistanz gehen werden. Zwei Sekunden Verzweiflung und ein hässlicher Fluch, dann springe ich ersatzweise zu einem Haufen Autoreifen, verliere weitere wertvolle Sekunden, weil ich mit kalten Händen (neun Grad!) den Doppelknoten in meiner Sporthose nicht aufkriege (nie wieder diese Hose!), dann will ich endlich Flüssigballast ablassen – und nichts kommt! Etwas verwirrt und äußerst frustriert binde ich schnellstens die Hose wieder zu und stürme zurück auf den Kurs. Die 2:29er Gruppe, von der ich mich risikofreudig abgesetzt hatte, ist eben vorbeigezogen, die auf den ersten zwei Runden mühsam herausgelaufenen Sekunden sind also für nichts und wieder nichts vertan. In dem Moment laufe ich an Lorna vorbei, die mir die Frustration ansieht und sich schon Mal auf einen weiteren Katastrophenmarathon gefasst macht.  

17:44 Minuten habe ich für Runde drei gebraucht, ca. 15-20 Sekunden davon entfallen auf die Boxenstoppepisode. An einem schlechten Tag wirft einen so etwas komplett aus der Bahn – nicht aber heute! Immerhin sind, vielleicht durch den Adrenalinschub, die Unterleibsschmerzen komplett verflogen.  

Zunächst hole ich die 2:29er Gruppe, 5-6 Mann stark, wieder ein. Was nun? Naheliegend wäre es, erst einmal ein oder zwei Runden im Windschatten zu laufen und mich neu zu sortieren. Aber das Tempo der Gruppe fühlt sich einfach eine Spur lasch an. Also gehe ich, wie der Pokerspieler sagt, lieber „all in“: Ich umkurve die Gruppe, rufe den Kameraden im Vorbeilaufen noch ein Scherzwort zu: „keine Sorge, das hier ist keine Überrundung, ich komme nur vom Boxenstopp!“, und ziehe ihnen erneut davon. Diesmal auf Nimmerwiedersehen. 

17:11 Minuten für Runde vier, ich werde schneller, sehr gut. Die Halbmarathonmarke habe ich somit in ca. 1:14:05 passiert – schon eine Minute Puffer auf sub2:30. Einen Puffer in der Größenordnung hatte ich zwar schon bei früheren Marathons gelegentlich – aber noch nie habe ich mich dabei noch so gut gefühlt wie heute!  

17:11 Minuten auch für Runde fünf, großartig! Zwei Läufer, die der 2:29er Gruppe schon vor Längerem enteilt waren, sind mir konstant circa 30 Sekunden voraus – als bewegliches Ziel habe ich sie vor mir, was mir, auf Platz vier liegend, weiteren Ansporn gibt. Langsam werden die Beine schwer, aber am Ende jeder Runde stehen Lorna und Charlotte an der Strecke und feuern mich an. „It’s going great!“, brülle ich Lorna nach Runde fünf zu – und versetze mir damit selbst einen spürbaren Adrenalinstoß. Dass ich inzwischen permanent Läufer überrunde gibt zusätzlichen Schub.  

17:07 Minuten für Runde sechs, noch besser! 32 km geschafft. Die Beine werden jetzt richtig schwer, aber das Ende ist absehbar – und die Unterteilung der Strecke in 5km-Abschnitte macht die Sache für mich psychologisch viel leichter. Sechs Runden geschafft, zwei Runden noch! Die Uhr zeigt nach Runde sechs 1:51:56 an, das sieht wirklich extrem gut aus, zumal der Tank, trotz aller muskulärer Erschöpfung, noch nicht leer ist! Unter 2:30 werde ich praktisch sicher schaffen, es sieht eher nach 2:27 oder 2:26 aus – wenn ich noch eine Schippe drauflegen kann, sind sogar 2:25 möglich! Dies alles übrigens auch als Antwort auf die uralte Nichtläuferfrage: „So ein Marathon dauert ja ewig – woran denkst du denn die ganze Zeit?“ An Kilometerzahlen und Minuten und Sekunden, wie man sieht, an Zwischenzeiten und Hochrechnungen, und an die müden Beine („Shut up, legs!“ – Jens Voigt). Ganz gelegentlich, zum Beispiel heute, während ich mit Vollgas zum sechsten Mal die lange Gerade entlangspurte, auch an Ernst Jünger im Artilleriefeuer vor einem Sturmangriff aus dem Schützengraben: „Ich wurde von einem Gefühl der Unverletzbarkeit erfüllt. Wir konnten zermalmt, aber nicht besiegt werden. In solchen Augenblicken triumphiert der menschliche Geist über die gewaltigsten Äußerungen der Materie, und der gebrechliche Körper stellt sich, vom Willen gestählt, dem furchtbarsten Gewitter entgegen.“  

17:31 Minuten brauche ich für die vorletzte Runde, obwohl ich das Gaspedal durchgehend durchdrücke (Autometaphern passen so schön zu dieser Strecke!) – deutlich langsamer als die Runden davor, die Erschöpfung hat sich nun doch bemerkbar gemacht. 2:09:27 zeigt die Uhr, noch eine Runde! Der Vereinsrekord steht bei 2:26:28, den will ich mir jetzt unbedingt schnappen, aber dafür muss nun eine Schlussrunde unter 17 Minuten her. Ich schalte noch Mal einen Gang hoch und fliege um den mir inzwischen sattsam bekannten Kurs, mit sehr müden Beinen, aber dem festen Willen, meine Zeit so weit wie irgend möglich zu drücken. Das Ziel kommt in Sicht, ich werfe alles in den Schlussspurt. Nach 2:26:11 überquere ich die Ziellinie – als Vierter, aber die Platzierung ist heute natürlich nur eine Randnotiz. 16:44 Minuten für die letzte Runde. Was für ein Rennen. Was für eine Zeit. Und wie schön, dass Lorna und Charlotte da sind, um den Moment und diesen Tag mit mir zu teilen. Augenblick, verweile doch… 

 

Die Resultate: https://results.racetimers.co.uk/results.aspx?CId=16487&RId=4459&EId=6